Kompromisse im Mittelalter, Teil III

Organisatoren
Kompromisse im Mittelalter, Teil III
PLZ
-
Ort
digital
Land
Deutschland
Fand statt
Digital
Vom - Bis
14.07.2023 -
Von
Jan-Hendryk de Boer, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Die Reihe von digitalen Workshops zu Kompromissen im Mittelalter, die im November 2022 begonnen hat, wurde am 14. Juli 2023 fortgesetzt. Ungeachtet der vielen Forschungen zu Konfliktlösung und Konsensfindung im Mittelalter ist es offenkundig lohnend, nach Kompromissen als einer spezifischen Form, Konflikte zu regulieren, zu fragen. Kompromisse zeichnen sich dadurch aus, dass alle Parteien mitunter schmerzhafte Zugeständnisse machen, ohne von ihren Ausgangspositionen grundsätzlich abzuweichen. Kompromisse sind insofern zweitbeste Lösungen, als die Beteiligten zwar die Notwendigkeit einer Einigung und die möglicherweise daraus erwachsenden Chancen erkennen, aber keine Abstriche an ihren Ansprüchen vorgenommen hätten, wenn sie dies nicht aufgrund situativer und struktureller Erfordernisse für geboten gehalten hätten. Anders als Konsense sind sie prekär, da der bestehende Dissens überbrückt, aber nicht aufgehoben wird. Wie schon in den beiden ersten Workshops der Reihe wurde erprobt, inwiefern ein solches interdisziplinäres, stark an den politiktheoretischen und soziologischen Diskussionen orientiertes Kompromissverständnis dabei helfen könne, verschiedene Formen der Konfliktregulierung für das Mittelalter präziser zu unterscheiden als bisher.

Zu Beginn wandte sich FRANCESCO MASSETTI (Wuppertal) dem Reformpapsttum des 11. Jahrhunderts und insbesondere Leo IX. zu. Synoden seien ein wesentliches Mittel zur Durchsetzung von päpstlichen Machtansprüchen und Reformvorstellungen gewesen. Zugleich seien sie Orte der Kompromissfindung gewesen: Auf der Synode von 1049 sei etwa die Frage nach der Gültigkeit der von Simonisten gespendeten Weihen diskutiert worden. Petrus Damiani berichte von einer zunächst strikten Haltung des Papstes. Doch sei nach Verkündigung des rigorosen Beschlusses ein Aufstand der römischen Kleriker losgebrochen. Daraufhin hätten die Bischöfe über die aus der Absetzung aller simonistischen Priester resultierenden Gefahren beraten. Schließlich sei ein von Leo IX. bekräftigter Kompromissvorschlag unterbreitet worden: Jene Simonisten, die sich ihrer Sünde bewusst seien, sollten nach einer vierzigtägigen Buße ihr Amt behalten können. Der Papst habe dies ausdrücklich für eine Lösung von beschränkter zeitlicher Dauer gehalten. Tatsächlich habe die römische Synode von 1051 das Problem erneut behandelt, aber keine neue Lösung gefunden. Der Papst habe schließlich die Bischöfe lediglich gebeten, Gott um Erleuchtung zu bitten, der Kompromiss sei in Kraft geblieben.

Auch auf der Synode von Reims 1049 fand man einen Kompromiss, als die Versammlung durch den Rangstreit zwischen den Erzbischöfen von Reims und Trier überschattet zu werden drohte. Diesen entschärfte man durch eine kreisförmige Anordnung der Sitzplätze. Ein stillschweigender Kompromiss wurde auch in Bezug auf die Simonievorwürfe gegen Wido von Reims gefunden: Wido sollte einen Reinigungseid leisten, kam dem aber nicht nach, sondern bat mehrfach um Aufschub. Zwischendurch wurden Verhandlungen mit dem Papst selbst und weiteren Bischöfen geführt. Schließlich vertagte man die Entscheidung, wodurch Leo IX. demonstrieren konnte, dass niemand sich seinen Forderungen dauerhaft entziehen könne. Zugleich verzichtete er darauf, seine Ansprüche vor Ort durchzusetzen. Ähnlich verfuhr Leo IX. angesichts einer Ehebruchsanklage gegen Bischof Gregor von Vercelli. Auf der Synode von Vercelli vermied er es, die Angelegenheit zu behandeln. Stattdessen griff man zu privaten Verhandlungen und einer Vertagung. Erst auf der Ostersynode von 1051 wurde Gregor in Abwesenheit exkommuniziert, später nach einer angemessenen Bußleistung restituiert. Der von Leo IX. praktizierte Kompromiss, das Problem erst einmal aufzuschieben, den lokalen Machtverhältnissen und den Interessen der Bischöfe Rechnung zu tragen, ohne die eigenen weitergehenden Ansprüche aufzugeben, hatte den Konflikt nicht dauerhaft gelöst, aber eine Eskalation verhindert und damit den Weg für eine spätere Lösung unter veränderten Umständen gebahnt. Dies sei charakteristisch für das Agieren dieses Papstes, so Massetti: Leo IX. verfolgte entschieden die Kirchenreform, war aber dann zu Kompromisslösungen und einem situativen Verzicht auf die vollständige Durchsetzung seiner Ansprüche bereit, wenn er glaubte, dadurch sein Reformanliegen insgesamt zu sichern. Er habe keine fundamentale Umwälzung gewollt, da er diese für unrealistisch gehalten habe. Gerade daher seien mit ihm Kompromisse möglich gewesen.

DAVID PASSIG (Duisburg-Essen) erinnerte zu Beginn seines Vortrags an Bernd Schneidmüllers Thesen zur konsensualen Herrschaft, wonach der König zur Herrschaftsausübung auf den Konsens der Eliten des Reiches angewiesen gewesen sei. Damit sei aber noch nicht geklärt, wie sich im Mittelalter Kompromiss und Konsens verhalten hätten. In den Quellen werde consensus regelmäßig in Verbindung mit unanimitas, „Einmütigkeit“, gebraucht. Hierbei handele es sich im Regelfall um Wertungen ex post. Wie und wodurch der Konsens erreicht worden sei, werde nicht expliziert. Mitunter fänden sich Belege für Auseinandersetzungen und mühsame Entscheidungsfindung auf den Versammlungen der Großen, wodurch der Konsens auf die Probe gestellt worden sei. Gleichwohl betonten die Quellen auch in diesen Fällen Einmütigkeit und Konsens. Es böten sich angesichts dieses Befundes zwei Strategien an: Entweder man nehme an, die Quellen bauten Konsensfassaden auf und verdeckten Kompromisse und Schmerzhaftigkeit. Oder aber der Konsens realisiere sich auf einer anderen Ebene als die Eintracht der schlussendlichen Entscheidung. Dann schlössen sich Konsens und Konfliktregulierung durch Kompromiss nicht aus.

Diese Überlegungen konkretisierte Passig anhand der „Narratio de electione Lotharii“ aus dem dritten Viertel des 12. Jahrhunderts. Die Quelle schildere, wie die Königswahl von 1125 die Konsensgemeinschaft auf die Probe gestellt habe. Der Quelle zufolge habe ein geteiltes Bewusstsein um die Verantwortung für das Reich die Fürsten zusammenkommen lassen. Zunächst habe man sich auf eine Wahl per compromissum geeinigt. Demnach wurden je zehn Principes der vier Stämme als Vorwähler bestellt. Sie hätten sich auf drei Kandidaten geeinigt. Alle übrigen Fürsten sollten einen der drei zum König küren. Während Lothar von Süpplingenburg und Leopold von Österreich zugesagt hätten, die Wahl eines anderen zu akzeptieren, habe Friedrich von Schwaben dies verweigert. Daraufhin hätten die Fürsten ihn nicht wählen wollen. Als man zu Wahl geschritten sei, habe eine Laiengruppe unerwartet Lothar zum König ausgerufen, was zu einem Dissens der Fürsten geführt habe. Nur mühsam sei durch die Vermittlung eines Kardinals und einiger Fürsten die Eintracht wiederhergestellt worden, so dass die einmütige und konsensuale Wahl Lothars von Sachsen erfolgen konnte. Schließlich habe Friedrich eingesehen, dass Gott die Sinne aller auf die Wahl einer Person geeinigt habe, und die Wahl anerkannt.

Passig legte dar, dass Konflikte hier dem Konsens vorausgegangen seien. Aus dem Konsens über das Verfahren sei Friedrich ausgebrochen. Der Kardinal habe die Fürsten erst an ihre Verantwortung gegenüber dem Reich erinnern müssen und dadurch den Konsens als Pflicht zur Friedenswahrung wiederherstellen können. Erst danach sei eine konsensuale Wahl möglich gewesen. Lothar selbst sei ein Kompromisskandidat gewesen. Demnach hätten sich Konsens und Konflikt sowie Konsens und Kompromiss nicht ausgeschlossen. Für die Interpretation der Ereignisse sei es erforderlich, zwischen den jeweiligen Ebenen zu differenzieren. Dann erweise sich Konsens als fundamentales Prinzip mittelalterlicher Politik, woraus jedoch nicht folge, dass jede Entscheidung konsensual getroffen worden sei. Der Konsens habe sich auf Verfahren der Entscheidungsfindung bezogen, aber nicht deren Inhalt determiniert. Insofern sei auch im Mittelalter das Ringen um Kompromisse Teil der politischen Praxis gewesen. Der in den Quellen akzentuierte Konsens und die Betonung von Einmütigkeit seien als Willen, gefundene Kompromisse mitzutragen, zu lesen.

GION WALLMEYER (Bielefeld) untersuchte den Konflikt um die Absetzung des Großmeisters der Johanniter 1317 bis 1319 als Auseinandersetzung zwischen zwei Parteien im Orden. Auf der einen Seite standen die Inhaber der Führungspositionen im Osten, auf der anderen die Verwalter der im Westen gelegenen Landgüter. Instrumente der friedlichen Konfliktbeilegung funktionierten zu Beginn des 14. Jahrhunderts nicht mehr: Der Zentralkonvent war nach dem Verlust der Besitzungen im Osten heimatlos geworden, zunächst residierte er auf Zypern, dann auf Rhodos. Infolge der Auflösung des Templerordens konnten die Johanniter enorme Besitzgewinne verzeichnen, was die Machtverhältnisse im Orden verschob. Der Ordensmeister Foulques de Villaret versuchte, mit den Ordensprovinzen gegen den Zentralkonvent zu regieren. 1317 ernannten Anhänger des Zentralkonvents einen neuen Ordensmeister. Die Kurie vermied eine direkte Intervention, vielmehr agierte Johannes XXII. als Mediator. Die konkurrierenden Ordensmeister wurden nach Avignon geladen. Hier handelte man einen Kompromiss aus. Der Papst erklärte die Absetzung für unrechtmäßig. Um Frieden zu wahren, trat Foulques de Villaret allerdings umgehend zurück und die in Avignon versammelten Johanniter wählten einen neuen Ordensmeister, einen Vertrauten von Foulques de Villaret. Die Hälfte der Ordensprovinzen wurde neu besetzt, einige Priorate wurden neu zugeschnitten. So war eine salomonische Neubesetzung der Provinzen möglich. Die ehemaligen Konkurrenten wurden durch die Übertragung eines Priorats entschädigt und dabei betont gleichgestellt.

Laut Wallmeyer sind zwei Ebenen der Konfliktlösung zu unterscheiden: Auf der institutionellen Ebene wurde eine dauerhafte Lösung etwa durch die Verteilung der Ordensprovinzen gesucht; auf der Ebene der Akteure ging es um Friedenswahrung, da man wusste, dass der Konflikt fortbestehen würde. Der Papst agierte als Schiedsrichter. Er suggerierte dabei stets, lediglich den Ordensstatuten zu folgen. Dass der Kompromiss mündlich ausgehandelt und nicht schriftlich niedergelegt wurde, sicherte, dass alle Beteiligten ihr Gesicht wahren konnten.

JESSIKA NOWAK (Wuppertal) stellte schließlich vor, wie zwei Akteure einen dritten durch geschicktes Agieren dazu brachten, einen Kompromiss einzugehen. Ausgangspunkt war der Wunsch Giovanni Castiglionis, damals Bischof von Coutances, in ein Bistum in der Lombardei versetzt zu werden. Er wünschte einen Wechsel nach Pavia, doch dazu war das Einverständnis des Mailänder Machthabers Francesco Sforza erforderlich, der andere Pläne für dieses Bistum hatte. Unterstützt wurde Castiglioni von Kardinal Guillaume d’Estouteville. Castiglioni suggerierte zunächst, es sei ein großes Zugeständnis seinerseits, Coutances aufzugeben. In der Folge unterbreiteten Giovanni Castiglioni und Guillaume d’Estouteville Francesco Sforza mehrere Angebote, von denen sie laut Nowak wissen mussten, dass dieser sie nicht annehmen konnte. So forderten sie für Castiglioni das Erzbistum Mailand und zusätzlich den Kardinalshut. Nach der erwartbaren Ablehnung folgte ein weiteres Angebot, das für die beiden Kirchenmänner nicht von besonderem Interesse war, aber suggerierte, man selbst sei zu Zugeständnissen bereit. Deshalb bot Castiglioni an, nach Piacenza wechseln zu wollen. Der Herzog lenkte jedoch überraschend ein, so dass d’Estouteville und Castiglioni auf Zeit spielen mussten. Hinter den Kulissen brachte Guillaume d’Estouteville den Papst dazu, Piacenza an einen anderen Kandidaten zu vergeben. Erst jetzt forderten die beiden jenes Ziel, das sie von Anfang an im Auge gehabt hatten: Pavia. Schließlich fand man einen Kompromiss: Papst und Kardinäle akzeptierten die Ernennung von Gabriele Sforza zum Erzbischof von Mailand, Giovanni Castiglioni erhielt dafür das Bistum Pavia. So war das Ziel erreicht – das für Francesco Sforza alle Merkmale eines Kompromisses aufweist, für Castiglioni die erwünschte Lösung war.

In den intensiven, interdisziplinär geführten Diskussionen des Workshops ergaben sich für die weitere Erforschung des Kompromisses einige wichtige Anregungen. Grundlegend ist eine Differenzierung verschiedener Handlungsebenen, wodurch deutlich werden kann, dass konsensuale Interaktion auf der einen Ebene Kompromisse auf einer anderen ermöglicht. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Anwesenheit oder Abwesenheit der Beteiligten. Unter Bedingungen der Interaktion von Anwesenden ergeben sich andere Handlungs- und Verständigungsmöglichkeiten, als wenn diese fehlen. Die behandelten Fälle deuten allerdings nicht darauf hin, dass Kommunikation unter Anwesenden prinzipiell Kompromisse erleichterte. Unter Umständen kann das Gegenteil der Fall sein. Geht man davon aus, dass Kompromisse Übereinkünfte von beschränkter Dauer sind, tritt die Frage der Temporalität in den Vordergrund. Diese ist für den gesamten Prozess der Kompromissfindung sowie für die Geltung des Ergebnisses zu berücksichtigen und könnte erlauben, die Voraussetzungen und die Genese von Kompromissen und anderen Übereinkünften präziser auszudifferenzieren. Hieran schließt sich die Frage der Sequenzialisierung an: Können Übereinkünfte in Reihe geschaltet werden? Und welche Folgen hat das Erzielen einer Übereinkunft für anstehende folgende Verständigungen? Schließlich ist nach den strukturellen Faktoren zu fragen, in den sich Kompromisse ereignen: Sind Krisen Zeiten, in denen Kompromisse besonders häufig angestrebt werden? Ermöglichen Kompromisse soziale Transformationen? Wie sind sie umgekehrt in Genese und Geltung von sozialen Veränderungen betroffen? Wählen Akteurinnen und Akteure die Konfliktregulierung durch Kompromisse im Mittelalter gerade dann, wenn es gilt, Neuerungen gegen den Widerstand derer, die den Traditionen anhängen, durchzusetzen? Es bleiben also viele offene Fragen. Der nächste Workshop der Reihe am 2. Februar 2024 wird Gelegenheit bieten, sie gemeinsam zu diskutieren.

Konferenzübersicht:

Jan-Hendryk de Boer (Duisburg-Essen), Shigeto Kikuchi (Tokio), Jessika Nowak (Wuppertal): Begrüßung und Einführung

Francesco Massetti (Wuppertal): Die Kompromisse eines eifrigen Reformers: Papst Leo IX. (1045–1049) im Synodalkontext

David Passig (Duisburg-Essen): Alles Fassade? Narrativierungen von Konsens und Kompromiss im hohen Mittelalter

Gion Wallmeyer (Bielefeld): Wie man sich eines Großmeisters entledigt – Konflikt und Kompromiss im Johanniterorden des 14. Jahrhunderts

Jessika Nowak (Wuppertal): „yo più facillemente ho consentito, perché ho molto più lassato, ma assay yo ho guadagnato“ – Kompromisse über die Bande. Die Besetzung des Bistums Pavia Mitte des 15. Jahrhunderts

Schlussdiskussion

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